EIN STÜCK EU IN WESTBERLIN PROVOZIERT DEN OSTEN

Buch-AuszugEwald König

Ziemlich unbemerkt von der Öffentlichkeit wagt es die EU 1975, die damals noch EG heißt, auf Westberliner Boden Fuß zu fassen und eine Art Bodenstation zu errichten. Mit einer europäischen Behörde soll demonstriert werden, dass Westberlin zur EU gehöre. Für die Ostseite eine Provokation.

Dass es immer wieder Konflikte gab, sobald die Bundesrepublik in Westberlin Präsenz zeigte, ist bekannt. Das lag an der unterschiedlichen Interpretation des Viermächteabkommens. Fundament des Abkommens zwischen den drei westlichen Alliierten USA, Frankreich und Großbritannien auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite war, dass Westberlin nicht zur Bundesrepublik gehörte. Und weil Westberlin kein konstitutiver Teil der Bundesrepublik sei, würden die Westsektoren folglich auch nicht von der Bundesrepublik regiert werden können.

Die DDR betrachtete Westberlin als selbstständige politische Einheit. Regelmäßig kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Bonn und Ostberlin, wenn eine westdeutsche Bundesbehörde in Westberlin eingerichtet wurde. Einen solchen Konflikt beschwor zum Beispiel die Installierung des Umweltbundesamts in Westberlin hervor. Konflikte waren auch an der Tagesordnung, wenn sich die Bundesrepublik in offiziellen Delegationen durch Personen vertreten ließ, die ihren ständigen Wohnsitz in Westberlin hatten. Selbst noch im November 1989 provozierte die geplante Moskau-Reise von Westberlins Regierendem Bürgermeister Walter Momper die Streitfrage: Soll Momper als Repräsentant Westberlins auf dem Moskauer Flughafen offiziell vom Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Sowjetunion begrüßt werden dürfen?

Umgekehrt provozierte auch die DDR. Sie verletzte den besonderen Status von Groß-Berlin, indem die Regierung ihren Sitz in Ostberlin hatte. Das hätte nach dem Viermächteabkommen eigentlich nicht geschehen dürfen. Die DDR betrachtete den Ostteil der Stadt jedoch als „integralen Bestandteil der DDR“. Bis zuletzt waren für das gesamte Berlin aber die Vier Mächte verantwortlich.


Autor

Ewald König arbeitete als Korrespondent für die österreichische Zeitung 'Die Presse' in Bonn und Berlin –- als einziger Journalist, dem es gelang, sowohl in der BRD als auch in der DDR akkreditiert zu werden. Er berichtete von Montagsdemos und Flüchtlingsschicksalen, war bei der Pressekonferenz am 9. November 1989 mit Günter Schabowski dabei und erlebte die Nacht des Mauerfalls. Später gründete er sein eigenes Korrespondentenbüro in Berlin und wurde Chefredakteur und Herausgeber des europäischen Online-Portals euractive.de. Er veröffentlichte u. a. mehrer Bücher zur deutsch-deutschen Geschichte.


Text

Dieser Text stammt aus dem Buch "Die DDR und der Rest der Welt. Außenbeziehungen zur Wendezeit. Notizen eines Wiener Korrespondenten" und wurde uns vom Autoren freundlicherweise für dieses Projekt zur Verfügung gestellt.

Mehr Informationen und Inhalt

mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale), 2019
ISBN 978-3-96311-205-8
424 Seiten
Ladenpreis: 20 EUR
Direktvertrieb: buecher@korrespondenten.com oder Tel. +49 30 4000 4630


WESTEUROPÄISCHES SIGNAL AN DEN OSTEN

Nicht bekannt ist jedoch, dass auf der Westseite auch eine andere Institution für Irritation sorgte, die mit der Bundesrepublik unmittelbar nichts zu tun hatte. Ich bin sicher, nicht einmal Westberliner wissen, dass auf ihrer Stadthälfte eine Einrichtung der Europäischen Union existierte. Ich selbst habe das nur durch Zufall erfahren. Es handelte sich zwar um eine eigenständige juristische Person des EU-Rechts, die keinen Weisungen der EU-Kommission unterlag, dennoch: Westberlin als Standort der Europäischen Union – das schien zumindest anfangs besonders provokant.

Es geht um das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP), gegründet durch den Europäischen Rat auf einem Gipfeltreffen in Brüssel im Februar 1975. Aufgabe des Zentrums ist es, die vielen Millionen Europäer mit geringer oder gar keiner Qualifikation zu unterstützen und sie mit Berufsbildungsmaßnahmen vor Arbeitslosigkeit zu bewahren, aber auch die Lage zu dokumentieren und zu analysieren sowie EU-Länder bei Reformen zu beraten.

Dass die EU beschloss, das Zentrum in Westberlin zu gründen, sollte wohl ein besonderes Signal an den Osten sein: Westberlin gehöre zur Europäischen Union. Was natürlich beinhaltet, dass Westberlin ein Teil der BRD sei.

Das Zentrum selbst hatte jedoch keinerlei politische Ambitionen. „Wir wollten nur die Berufsbildung fördern“, sagte Marino Riva, damaliger Leiter der Verwaltung des CEDEFOP. „Ob die Europäische Gemeinschaft hier Flagge zeigen wollte oder nicht, war uns egal. Wir wollten in Ruhe unsere Arbeit machen.“ Man hatte kein Interesse aufzufallen. Selbst die Europaflagge wurde nur zu ganz besonderen Anlässen gehisst. In der Zeitung wurde das Haus kaum erwähnt, bestenfalls wenn der Regierende Bürgermeister einen Termin im Zentrum hatte.

Auch der Umzug von der ersten Adresse in der Keithstraße, wo das Büro aus nur zwölf Leuten bestand, in die Bundesallee 22 wurde bewusst nicht hochgespielt. Das Gebäude wurde vom Land Berlin kostenlos zur Verfügung gestellt. Der Platzbedarf nahm stetig zu, ein Sitzungssaal wurde drangebaut, ein Nachbarhaus dazugekauft. Die Dolmetscheranlage mit elf Kabinen für mehr als dreißig Dolmetscher war damals die größte Einrichtung Berlins mit Sprachmöglichkeiten. Nach vierjähriger Planungsund Bauphase wurde – heute undenkbar – die Fertigstellung auf den Tag genau eingehalten. Die Kosten waren um 0,3 Prozent (!) höher als geplant. (Der dafür verantwortliche Beamte, Bernhard Ziech, ist leider schon in Rente und für den Flughafen BER nicht mehr verfügbar.) Der Eröffnung wohnte die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Simone Veil, bei. Als ihr anschließend Berlin gezeigt wurde, folgten dem Konvoi neugierige Beobachter von jenseits der Mauer.

Ähnlich war es schon 1975, als anlässlich der Gründung des Zentrums der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, Emilio Colombo, nach Berlin kam. Da war nicht zu übersehen, wie die russische Verwaltung, die ja freien Zugang nach Westberlin hatte, die Autofahrten zu stören versuchten.

SONDERBARER STATUS DES ZENTRUMS

Der Status dieser europäischen Behörde war sonderbar. Die Mitarbeiter galten anfangs nicht als europäische Beamte, sondern als Bedienstete des Instituts mit eigenen Beschäftigungsbedingungen. Erst vor dem Umzug nach Thessaloniki bot ihnen Brüssel an, für die gesamte bisherige Dienstzeit rückwirkend den europäischen Beamtenstatus zu erhalten. Wer nicht mitziehen wollte, wurde gekündigt. Die nichtdeutschen Mitarbeiter, sie waren in der großen Mehrzahl, hatten wenigstens das Privileg, nicht regelmäßig bei der Ausländerbehörde die Aufenthaltsgenehmigung einholen zu müssen. Das Zentrum wurde lediglich „gebeten“, der Berliner Senatskanzlei die Namen der Bediensteten mitzuteilen.

Das Gebäude der CEDEFOP hatte halb exterritorialen Charakter. Ein deutscher Gerichtsvollzieher hätte es nicht betreten dürfen, und der Verwaltungschef hätte für seine dienstlichen Handlungen nicht vor einem deutschen Gericht belangt werden können. Die Mitarbeiter hatten aber weder spezielle Nummernschilder an den Autos noch diplomatische Einkaufsmöglichkeiten.

Beim Durchfahren der DDR zwischen Westdeutschland und Westberlin hatten die CEDEFOP-Mitarbeiter zwar keine Probleme. Die DDR-Grenzer gaben jedoch zu erkennen, dass sie sehr wohl wüssten, wer die Leute seien.

An einem Montag im Oktober 1993 findet Bernhard Ziech seinen damaligen Direktor, Ernst Piel, in der Tiefgarage in völlig aufgelöstem Zustand vor. An seinem Geburtstag hatte Piel eben erfahren, was am Wochenende im Europäischen Rat in Brüssel beschlossen wurde. Bundeskanzler Helmut Kohl soll darauf bestanden haben, die Europäische Zentralbank (EZB) in Deutschland anzusiedeln. Er soll gedroht haben, nicht aus dem Sitzungssaal zu gehen, bevor er nicht die EZB in Frankfurt habe. Da auch andere Städte als Sitz der EZB interessiert waren, musste Kohl einen Ausgleich anbieten. Er soll einen Zettel aus der Tasche gezogen und gesagt haben: Wir haben ja in Berlin dieses Europäische Zentrum. In Berlin sei es nach Überwindung von Teilung und Mauer politisch nicht mehr nötig, demonstrativ eine europäische Institution im Westsektor zu haben, um zu zeigen, dass Westberlin zwar nicht juristisch, jedoch politisch zur EU gehöre.

Auf diesem Brüsseler Gipfel wurde auch über weitere neue Institutionen der EU verhandelt bzw. geschachert. Da Griechenlands Ministerpräsident Andreas Papandreou, betagt und gesundheitlich angeschlagen, auf diesen Sitzungen stets eingenickt sein und die Aufteilung verpasst haben soll, drohte sein Land leer auszugehen. Am Ende bot man ihm noch rasch das Europäische Zentrum für die Förderung der Berufsbildung an. Damit war der Umzug von Berlin nach Thessaloniki besiegelt. Als Direktor Piel dies den Mitarbeitern mitteilte, „standen wir alle da“, erinnert sich Ziech.

Die Griechen wussten mit dem Zentrum offenbar nichts anzufangen. In Thessaloniki bot man dem CEDEFOP eine Villa für maximal zwanzig Leute an. Damals gab es schon 120 Mitarbeiter. Die EU entschied sich für einen Neubau auf einem Berg bei Thessaloniki. Der Transport mit vier Lastwagen samt Anhänger musste wegen des Kosovo-Krieges den Umweg über Bulgarien und Rumänien nehmen. Die Personalund Finanzakten aus Berlin landeten in einem Kellerraum, wo sie ungeordnet bis zur Decke gestapelt waren.