30 Jahre Ostdeutschland im vereinten Europa
1990 war ein ereignisreiches Jahr in der DDR: die ersten freien Wahlen zur Volkskammer im März, die Einführung der D-Mark im Juli und schließlich der Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik Deutschland im Oktober. In der Erinnerung jedoch kommt ein wesentlicher Aspekt oft zu kurz: Am 3. Oktober wurden die neuen Bundesländer quasi über Nacht Teil der Europäischen Gemeinschaft.
EU-Beitritt im Zeitraffer
Die alte Bundesrepublik hatte sich bereits seit 1950 im Verbund mit Frankreich auf den Weg in ein gemeinsames Europa gemacht. Die Montan-Union, die Römischen Verträge sowie die Einheitliche Europäische Akte hatten zu einer engen Bindung mit den westlichen und südlichen Nachbarn geführt. Im Gespräch waren schon eine Wirtschafts- und Währungsunion, aus der dann später der Vertrag von Maastricht und die Einführung des Euro erwuchsen. Wie in Zeitraffer sind vor 30 Jahren die Menschen in der DDR am 3. Oktober 1990 in dieses gemeinsame Europa gekommen. Für die Nachbarn in Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn war der Weg länger und dauerte bis zur EU-Erweiterung 2004.
Die besonderer Erfahrung der Ostdeutschen
Die ostdeutschen EUROPE DIRECT Informationszentren wollen mit dieser Webseite an den Beitritt der neuen Bundesländer zu einem gemeinsamen Europa vor 30 Jahren erinnern. Wir wollen zeigen, welche Rolle die EU für die Entwicklung der Region seitdem spielt und dazu ermutigen, die besondere Erfahrung Ostdeutschlands einzubringen, wenn es gilt, östliche und westliche Perspektiven in der EU zusammenzubringen.
(links) Robert-Havemann-Gesellschaft/Hans-Jürgen Röder/RHG_Fo_HAB_15005
Freie und faire Wahlen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – seit Wochen gehen tausende Bürgerinnen und Bürger in Belarus für diese Grundrechte, die die Grundpfeiler der EU sind, auf die Straße. Die Situation erinnert an 1989, als hunderttausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger friedlich in Leipzig, Dresden, Berlin, Magdeburg und an vielen anderen Orten ebenso für diese Rechte demonstriert haben.
Die Menschen in der DDR haben der Welt bewiesen, dass es möglich ist, friedlich die Mauer einzureißen und sich friedlich den Weg in die Demokratie zu erkämpfen.
Knapp ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, traten 16,4 Millionen DDR-Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei – der heutigen Europäischen Union. Während Beitrittskandidaten normalerweise mehrere Jahre Zeit haben, um ihre Wirtschaft und Gesellschaft auf eine Mitgliedschaft in der EU umzustellen, mussten die Menschen in der DDR es in nur wenigen Monaten schaffen.
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Berlin Brandenburg a. d. Havel Dresden Erfurt Erzgebirge Frankfurt (Oder) Guben Halle (Saale) Leipzig Magdeburg Mecklenburg‑Vorpommern NordthüringenWir haben ostdeutsche Europa-Akteure gefragt
Dr. Dieter-Lebrecht Koch, Weimar
Um 0 Uhr jenes 3. Oktober 1990 war es endlich so weit: Die Freiheitsglocke erklang. Ich stand mit mir z.T. noch unbekannten Politikern und tausenden Menschen vor dem Reichstag, als die Flagge der Bundesrepublik Deutschland gehisst wurde. Ein unbeschreibliches, erhebendes Gefühl.
Dr. Dietrich von Kyaw, Berlin
Die Freude aller Deutscher, vor allem der vielen jungen DDR-Bürgerinnen und -Bürger.
Katharina Wolf, Dresden
[...] den Startpunkt von etwas Neuem. Die DDR ist an diesem Tag untergegangen. Aber auch das „alte“ Westdeutschland, wie es mir bis dato eine Heimat war.
Constanze Krehl, MdEP, Dresden
Ein knappes Dreivierteljahr anstrengender Arbeit in der Volkskammer endete mit einer letzten Fraktionssitzung der Ossis, gefolgt von einer gemeinsamen gesamtdeutschen Fraktionssitzung im Reichstagsgebäude.
Andreas Stark, Erzgebirge
Viel prägender und aufregender waren die zwölf Monate zuvor, wo mir vor allem die Demonstrationen in Zwönitz [...] sowie die Beratungen am Runden Tisch in Erinnerung geblieben sind.
Heidemarie Langisch, Frankfurt/Oder
Also das war für mich schon eine Grundlage für eine gewisse historische rationale Euphorie, aber ich war genauso zerrissen, weil ich nicht wusste, was mit mir wird.
Thomas Grosse, Magdeburg
Ich saß vor dem Fernseher um die Geschehnisse mitverfolgen zu können. Ich habe mich auf diesen Tag sehr gefreut und für alle Deutschen war dieser Tag ein Feiertag.
Dr. Claudia Conen, Nordthüringen
Mit dem 3. Oktober wurde schließlich eine Ungewissheit beseitigt, die bis dahin in den Familien zu spüren war: nun war es besiegelt – es sollte keinen Weg mehr zurück in das alte System und die Trennung Deutschlands geben.
Wir haben ostdeutsche Europa-Akteure gefragt
Dr. Karamba Diaby, MdB, Halle
Und so habe ich Europa, Schengen und die freien Grenzen das erste Mal wahrgenommen durch meine Reise nach Brüssel [...] im Jahr 1990. Nach fünf Jahren in der DDR bin ich das erste Mal ins „kapitalistische Ausland“ gefahren, ohne Grenzkontrollen. Und da habe ich Europa dann das erste Mal live erlebt, und das war schon ein schönes Gefühl.
Constanze Krehl, MdEP, Dresden
Für uns und mich galt immer: ein geeintes Deutschland gibt es nur in einem geeinten Europa. Als ich dann im Februar 1991 als Beobachterin ins Europäische Parlament kam, war das natürlich ganz toll für mich. Ich wurde mit meinen Kolleginnen und Kollegen herzlich aufgenommen.
Dr. Dieter-Lebrecht Koch, Weimar
Ich gehörte zu den 18 Bundestagsabgeordneten der ehemaligen DDR, die 1991 zu Beobachtern ins Europäische Parlament gewählt wurden. [...] Mein Interesse an der Europäischen Gemeinschaft war geweckt! Dass die EU dann fast 30 Jahre mein Leben bestimmen würde, ahnte ich damals noch nicht.
Dr. Claudia Conen, Nordthüringen
Mit der Einführung des europäischen Binnenmarktes 1993. Gefühlt wiederholte sich die Öffnung der Grenzen und damit noch weitere Möglichkeiten der Reisefreiheit, die ich bereits 1989 erlebt hatte. Mit Freunden begannen wir dann auch recht schnell, die europäischen Nachbarländer und Mitgliedstaaten zu bereisen und die unterschiedlichen Menschen kennen zulernen.
Andreas Stark, Erzgebirge
[...] Helmut Kohl, hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass es ein vereinigtes Deutschland nur im Rahmen der Europäischen Union geben würde. Insofern war es schon so, dass ich mich ab dem 3. Oktober 1990 sofort auch als Teil der europäischen Gemeinschaft fühlte.
Heidemarie Langisch, Frankfurt/Oder
Diese Verbindung das Deutschsein auf Europa auszuweiten, war für mich nicht schwer. Ich habe in meiner Funktion im Rat der Stadt geholfen die Städtepartnerschaft mit der französischen Stadt Nîmes zu organisieren und mit Vantaa, der finnischen Partnerstadt von Frankfurt.
korrespondenten.tv, distorted by EDIC Halle
Zwölf Mitglieder hatte die Europäische Gemeinschaft vor 30 Jahren. Die DDR glitt lautlos in den Club – ohne Beitrittsverfahren, ohne Vorbedingungen, ohne Vertragsänderungen, aber durchaus mit Misstrauen mancher Partner. Carlo Trojan war Vertreter der Brüsseler Kommission bei den deutsch-deutschen Einigungsverhandlungen. Seine Sicht der Dinge, bisher noch in keinem Interview geschildert, über einen wenig beachteten Aspekt des deutschen Einigungsprozesses.
Dass Carlo Trojan bisher von keinem Medium, weder einem deutschen noch einem ausländischen, zu seiner Rolle beim deutsch-deutschen Einigungsvertrag interviewt worden ist, spricht Bände. Die Art und Weise, wie die DDR gleichsam automatisch und geräuschlos in der Europäischen Gemeinschaft (EG) aufging, ist offenbar weder in der Wissenschaft noch in der Medienöffentlichkeit von Interesse.
Weiterlesen ⟶Fridolin freudenfett, Wilmersdorf Bundesallee 22, colorized, distorted von EDIC Halle, CC BY-SA 4.0
Ziemlich unbemerkt von der Öffentlichkeit wagt es die EU 1975, auf Westberliner Boden Fuß zu fassen und eine Art Bodenstation zu errichten. Mit einer europäischen Behörde soll demonstriert werden, dass Westberlin zur EU gehöre. Für die Ostseite eine Provokation.
Dass es immer wieder Konflikte gab, sobald die Bundesrepublik in Westberlin Präsenz zeigte, ist bekannt. Das lag an der unterschiedlichen Interpretation des Viermächteabkommens. Fundament des Abkommens zwischen den drei westlichen Alliierten USA, Frankreich und Großbritannien auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite war, dass Westberlin nicht zur Bundesrepublik gehörte. Und weil Westberlin kein konstitutiver Teil der Bundesrepublik sei, würden die Westsektoren folglich auch nicht von der Bundesrepublik regiert werden können.
Weiterlesen ⟶Fragen zur EU? Kein Problem: Um Ratsuchenden lange Wege zu ersparen, hat die Europäische Kommission in allen europäischen Ländern eine Vielzahl lokaler Informations- und Beratungszentren eingerichtet.
Die EUROPE DIRECT Informationszentren (EDIC) informieren über die Europäische Union, halten Broschüren bereit und können viele Auskünfte geben und Ansprechpartner nennen. Sie arbeiten eng mit der Europäischen Kommission zusammen und bieten zahlreiche Debatten- und Informationsangebote zur EU-Politik an.
In Deutschland gibt es derzeit 49 EUROPE DIRECT Informationszentren, zwölf davon in den ostdeutschen Bundesländern:
Berlin, Brandenburg a. d. Havel, Dresden, Erfurt, Erzgebirge, Frankfurt (Oder), Guben, Halle, Leipzig, Magdeburg, Mecklenburg Vorpommern, Nordthüringen
Lena Burandt
Katharina Wolf gründete 2015 den Landesverband Sachsen der Europa-Union Deutschland, dem sie seitdem ehrenamtlich vorsitzt. Ihr vielseitiges Wissen über die EU gibt sie seit vielen Jahren neben ihrer Arbeit auch im Ehrenamt und als Rednerin des TEAM EUROPE der Europäischen Kommission weiter.
In unserem Interview spricht sie darüber, wie am 3. Oktober 1990 auch das 'alte' Westdeutschland unterging, wie schwierig es ist, kleinen Regionen in Brüssel gehör zu verschaffen und wie sich jeder einzelne vor Ort für ein geeintes Europa engagieren kann.
Weiterlesen ⟶Dr. Claudia Conen begann ihre berufliche Laufbahn als Referentin eines Mitglieds des Europäischen Parlaments, bevor sie zu einer internationalen Wirtschaftskanzlei wechselte und später das Europaangelegenheiten in einer Bankengruppe betreute. Dr. Conen ist Mitglied im Präsidium der überparteilichen Europa-Union Deutschland
In unserem Interview spricht sie über Umbrüche, Chancen und Herausforderungen der Wendezeit – und wie für Ostdeutschland daraus ganz eigene Stärken entstanden, die mit Selbstbewusstsein, Zuversicht und Mut im vereinten Europa eingebracht werden können.
Weiterlesen ⟶Dr. Dieter-Lebrecht Koch wurde 1989 Mitglied der ersten demokratisch legitimierten Volkskammer der DDR und anschließend Bundestagsabgeordneter. 1991 wechselte er ins Europäischen Parlament – erst als Beobachter, dann als Abgeordneter. Heute ist Dr. Koch u. a. Landesvorsitzender des Netzwerkes Europäische Bewegung Thüringen e.V.
In unserem Video-Interview berichtet er u. a., welche Startschwierigkeiten er als einer der ostdeutschen Beobachter im Europaparlament erlebte – und wie sie später zu begehrten Brückenbauern und Ratgebern im Rahmen der EU-Osterweiterung werden sollten.
Zum Video ⟶Thomas Grosse war einer der ostdeutschen Pioniere in Brüssel. Im Dezember 1991 wurde er ins Europaministerium nach Magdeburg berufen und von dort im Frühjahr 1992 nach Brüssel delegiert und arbeitet dort in der Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt bei der EU. 2008 wechselte er in die Botschaft der Bundesrepublik bei der EU. Ab 2011 war er administrativer Leiter der Internationalen Deutschen Schule in Brüssel. Seit 2019 ist Thomas Grosse Vorstand der ECOLE Stiftung.
Im Video-Interview berichtet Thomas Grosse über die besondere Situation der frühen 1990er Jahre als er seine Arbeit in der Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt bei der EU aufnahm und wie sich die Beziehung der Sachsen-Anhalter zu Europa seither entwickelt hat.
Zum Video ⟶www.karamba-diaby.de (zugeschnitten)
Dr. Karamba Diaby kam als internationaler Student aus dem Senegal in die DDR und erlebte dort die Wende. Später arbeitet er in gemeinnützigen Organisation im Bereich Bildung, Jugendpolitik, Vielfalt und Menschenrechte und wurde schließlich 2013 als erster in Afrika geborener Schwarzer Mensch in den Deutschen Bundestag gewählt.
In unserem Interview spricht Dr. Diaby über die Unsicherheit, die die Wiedervereinigung für ihn mit sich brachte, seine Schwierigkeiten, danach – trotz guter Ausbildung – beruflich Fuß zu fassen und wie wir die Errungenschaften des vereinigten Europas heute besser sichbar machen können.
Weiterlesen ⟶Heidemarie Langisch war Lehrerin in der DDR. Nach der Wende baute sie die zentralen Anlaufstelle für Asylsuchende in Eisenhüttenstadt mit auf. Heute ist sie Geschäftsführerin eines Wohnheims für Asylsuchende und einer sozialen Betreuungsgesellschaft.
In unserem Audio-Interview spricht sie darüber, wie sie die Wiedervereinigung erlebt hat, wie sie vor und nach dem Mauerfall durch Europa reiste und darüber, was wir heute aus dem DDR-Bildungssystem lernen können.
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